Wolkenatlas | Cloud Atlas

Wolken über alles / Dr. Reinhard Spieler, Sprengel Museum Hannover

Die Kunst gehört keinem Lande an. Das Vaterland der Kunst ist der Himmel  Michelangelo

Das regierende Prinzip heisst all over. Für den Himmel scheint das die ureigenste, charakteristische Eigenschaft. Er kennt kein Format, nichts begrenzt ihn. Und nichts begrenzt die Wolken, die sich in diesem grenzenlosen Himmelsfeld bewegen. Als unregelmässige Strukturen breiten sie sich ohne erkennbares System aus, getrieben vom Wind, von unberechenbarer Dynamik, die keinen Ist-Zustand, sondern nur ein ständig sich veränderndes Bild kennt. Vom Diesseits scheinen sie sich ins Jenseits zu bewegen, besetzen des unendlichen Himmelsraum als All-over im wahrsten Sinne des Wortes: eine Ausdehnung in die Weiten des Alls. Allein unser biologisch limitiertes Blickfeld ist willkürlicher Rahmen und Begrenzung für das per se Grenzenlose dieser himmlischen Wolkenwelt.

All over ist allerdings ein Begriff, der nicht aus der Himmelsgeographie, sondern aus dem Bereich der Kunst stammt. Er bezeichnet ein Kompositionsprinzip, das eigentlich keines ist, das zumindest alle zuvor bekannten Kompositionsprinzipien unterläuft. Konzentration und Focus, die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie, Liniengeflechte, Pyramidalkonstruktionen, ins Bild hinein und wieder heraus führende Diagonalen sind gängige, seit Renaissance und Barock entwickelte Strukturprinzipien für eine Ordnung des Bildes, die in den Akademien zum Teil bis heute gelehrt werden. Jackson Pollock war die treibende Kraft, die versuchte, die jahrhundertealte europäische Tradition solcher Kompositionsprinzipien zu beenden und eine Bildordnung der neuen Welt zu etablieren. Europäische Kunst- und Geistesgeschichte musste dafür abgeschüttelt, das Bild von seinen logisch-konstruktiven Fesseln befreit werden, um natürlich-dynamischen, biologistisch motivierten Prinzipien zu folgen. Mit seinen drippings führte Pollock den kalkulierten Zufall in die Malerei ein, der in erster Linie körperlichen Rhythmus und tänzerisches Bewegungsgefühl zur Gestaltungsgrundlage macht. Das Bildfeld der Leinwand fungiert nicht mehr im klassischen Sinne als gerahmter Kosmos, sondern als mehr oder weniger willkürliche Grenze, die beliebig erweiterbar zu denken ist.

Birgitta Thaysens Wolkenbilder funktionieren als wissenschaftliches Anschauungsobjekt der Himmelsgeographie ebenso wie als abstrakte all over-Kompositionen im Sinne des Abstrakten Expressionismus – Wirklichkeit und Kunstwelt, Gegenständlichkeit und Abstraktion werden in diesen Bildern identisch und sind nicht mehr voneinander zu trennen. Ins Auge fällt zunächst das abstrakte Bild, die unregelmässige, keinem definierbaren System folgende Verteilung von diffus artikulierten Farben auf einem dunkleren Bildgrund. Dadurch wird Raum suggeriert, ein Vorne und Hinten im Bild, Oberfläche und Tiefe. Und doch gibt es keinerlei Anhaltspunkte, diese Raumsuggestion in irgendeine Richtung zu präzisieren. Wie tief ist die Tiefe? Wie flach die Oberfläche? Es fehlt jeder gegenständliche Bezugspunkt, der einen Vergleichsmassstab für die Grössenverhältnisse ermöglichen würde. Im Gegenteil: Die Tiefenillusion wird – nicht zuletzt auch durch die Spiegeleffekte der Diasec-Technik – immer wieder in die Bildfläche zurückgeworfen. Ähnlich wie bei den Lichträumen von James Turrell fällt die Wahrnehmung von Tiefenräumlichkeit und Fläche zusammen und ist nicht mehr voneinander zu unterscheiden.

Erst auf den zweiten Blick wird man die abstrakten Farben und Formen gegenständlich als Wolkenhimmel deuten. Und doch bleibt immer eine gewisse Unsicherheit bei der gegenständlichen Identifizierung, da jegliche Vergleichsgrösse fehlt. Es bleibt unklar, ob der Himmel wirklich Himmel ist oder nicht etwa Wasser, ob wir durch die Wolken demnach etwas Immaterielles wie Luft oder gar nur Raum sehen oder nicht doch etwa Materie wie Wasser. Die Unsicherheit darüber betrifft auch die Blickrichtung: Geht der Blick von unten nach oben in die Weiten des Himmelsraums, oder blicken wir aus der Satellitenperspektive des Jenseits hinunter ins Diesseits der irdischen Ozeane?

Thaysen inszeniert ein Vexierspiel von Gegenständlichkeit und Abstraktion, das ständig umspringen kann. Immer schon galten Himmel und Kosmos Inbegriff des Ungegenständlichen, Unbegrenzten und damit auch Unfassbaren – und doch ist es hier (Bild-)Gegenstand. Thaysen sucht dieses Unfassbare ausgerechnet mit dem Medium der Fotografie zu fassen. Fotografie war seit ihrer Erfindung Medium und Garant des Gegenständlichen und Authentischen. Zwei Welten prallen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In den Wolkenfotografien von Birgitta Thaysen verschmelzen sie zu einer unauflöslichen Einheit. Tiefe und Oberfläche, Abstraktion und Gegenständlichkeit, Kunst und Natur, wissenschaftliche Beobachtung und künstlerische Meditation scheinen ein und dasselbe – und verleihen dem Ausdruck des all over eine ganz neue Bedeutung.